Ich erinnere mich noch gut an den Sommer 2020. Es war ein ganz normaler Tag – bis plötzlich die Nachricht kam, dass ein Gesteinsbrocken aus der Fassade unserer evangelischen Hauptkirche gestürzt war. Zum Glück wurde niemand verletzt. Aber dieses Ereignis hat mich damals tief getroffen. Auf einmal war da dieses Gefühl, dass etwas mit einem unserer Wahrzeichen nicht stimmt – als hätte die Kirche selbst einen Hilferuf geschickt.
Seit über 120 Jahren steht sie am Rheydter Markt, mitten im Herzen der Stadt. Ich bin dort unzählige Male vorbeigegangen, habe ihre Silhouette im Abendlicht gesehen, wenn die Sonne hinter dem Turm versinkt. Für mich ist die Hauptkirche mehr als nur ein Bauwerk – sie ist ein Stück Identität. Ein Symbol für die Menschen hier, für Beständigkeit und Zusammenhalt.
Nach dem Vorfall 2020 kam schnell ans Licht, wie marode der Zustand tatsächlich war. Das Stahlgerüst in der Turmspitze – von Rost zerfressen. Instabil. Lebensgefährlich. Und so musste sie im November 2021 abgenommen werden. Ich weiß noch, wie seltsam es war, den „kopflosen“ Turm zu sehen. Die Kirche wirkte plötzlich verletzlich, fast nackt.
Aber Rheydt wäre nicht Rheydt, wenn man das einfach hingenommen hätte. Viele Menschen – aus der Gemeinde, aus der Politik, aus der Stadtgesellschaft – haben sich zusammengeschlossen, Spenden gesammelt, Pläne geschmiedet und durchgehalten. Der Bauverein „Evangelische Hauptkirche Rheydt“ hat mit Herz und Ausdauer dafür gesorgt, dass es jetzt, vier Jahre später, endlich so weit ist: Die Kirche bekommt ihr Haupt zurück.
Für den 27. Oktober ist der Kran bestellt und einen Tag später, wenn alles gut läuft, wird die Spitze wieder aufgesetzt. Für diese Arbeiten sind zwei, drei Tage Puffer eingeplant. Denn Wind und Wetter müssen mitspielen. Das Ganze ist Millimeterarbeit.
Für die Arbeiten muss die Hauptstraße für einige Tage gesperrt werden – der Kran bringt stolze 450 Tonnen auf die Waage. Aber das ist es wert. Denn wenn die Spitze in 70 Meter Höhe wieder glänzt, wird das nicht nur ein technischer Erfolg sein, sondern ein emotionaler Moment für viele von uns.
Was mich besonders berührt, ist die Dankbarkeit, die Semmler ausdrückt. Ohne die vielen Spenderinnen und Spender, ohne die Unterstützung von Land, Stadt und Kirche wäre das alles nicht möglich gewesen. Dieses Projekt zeigt, was eine Gemeinschaft leisten kann, wenn sie zusammensteht – und wie stark die Verbundenheit mit einem Stück Stadtgeschichte sein kann.
Die aufwendig restaurierte, 15 Meter hohe Turmspitze ist mittlerweile fertig. Am 22. Oktober wird sie erstmals wieder öffentlich gezeigt – bevor sie wenige Tage später dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört: auf die Spitze der Hauptkirche, mitten in Rheydt.
Ich werde dabei sein. Und ich weiß jetzt schon: Wenn der Kran die Spitze in die Höhe hebt und sie sich langsam wieder über den Markt erhebt, dann wird das ein Gänsehautmoment. Nicht nur, weil das Bauwerk wieder vollständig ist – sondern weil man dann spürt, was diese Kirche uns bedeutet.
