Seit Bassam Tibi, ein deutsch-syrischer Politikwissenschaftler, den Begriff »(europäische) Leitkultur« erstmalig Ende der 1990er-Jahre verwendete, wurden über nahezu 20 Jahre politische Debatten um die Bedeutung, den Gehalt und die Berechtigung dieses Begriffs geführt. Diese Kontroversen drehten sich primär um das Verhältnis und die Verständigung zwischen deutschen Staatsbürgern und Neuankömmlingen.
Bassam Tibi hatte versucht, so etwas wie eine »innere Hausordnung« für eine moderne, plurale Gesellschaft zu beschreiben, die sich in einem säkularen Wertekonsens widerspiegelt. Sie sei primär an Werten der europäischen Aufklärung orientiert, entstehe allerdings nicht durch bloße Rechtsbefolgung. Die Vernunft habe vor aller religiösen Offenbarung in einer säkularen Demokratie zu stehen. Ein allseitig anerkannter Pluralismus müsse zugleich die Basis für gegenseitige Akzeptanz und Toleranz schaffen und somit eine rationale Bewältigung kultureller Differenz ermöglichen.
Wer kann, wer soll entscheiden, was „deutsch“ ist, was „deutscher“ und was „undeutsch“? Eine starke Leitkultur ist bitter nötig, nur müssen wir sie nicht neu erfinden, wir besitzen sie bereits.
Es sind unsere Werte, die die Leitkultur darstellen
Das Grundgesetz ist die definitive Konkretion einer deutschen Leitkultur in ihrer denkbar präzisesten und denkbar schönsten Form. Für alle, die hier leben, für alle, die kommen. Ein solch leidenschaftliches Bekenntnis zur Verfassung hat nichts, gar nichts mit Schwärmerei, Idealismus, Utopismus zu tun – im Gegenteil: Es ist knallharter Realismus und Pragmatismus. Alles, unsere gesamte Ökonomie, Wohlstand und Frieden beruhen auf diesen Werten, nur so bewahren wir eine Wirklichkeit, die lebenswert ist.
Real liegt die größte Bedrohung der liberalen Demokratie ohne Zweifel in ihrer eigenen selbstzerstörerischen Lethargie – der von uns allen. Gerade eben, weil Demokratie kein natürlicher Zustand ist, sondern eine fragile kulturell-historische Errungenschaft, die auch wieder vergehen kann, muss sie von uns tagtäglich lebendig gehalten werden.
Die Werte der Freiheit des Individuums, die Freiheit des Denkens, des Redens, so sieht ein adäquates Verständnis des Grundgesetzes aus.
Das Grundgesetz gesellschaftlich mehr vermitteln
Sofort kommt man zu einem verheerenden Versäumnis: Wir vermitteln diese Leitkultur viel zu schwach. Nicht einmal annähernd angemessen in unseren gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen.
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Nicht erst in den weiterführenden Schulen, schon in den Kindergärten und Grundschulen brauchen wir demokratische Bewusstseinsmachung. Wir brauchen eine begeisterte, lebendige, konkrete wie umfassend ausgedehnte Demokratiekunde.
Mit allen Grundfesten verhält es sich so: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, es gilt das „Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit“, auf „körperliche Unversehrtheit“. Paradigma ist die Religionsfreiheit, eine Leitkulturfrage par excellence, da sie grundlegend für alles „Private“ und die tiefsten Überzeugungen jedes einzelnen steht. „Die Freiheit des Glaubens“, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Eine epochale Errungenschaft, die Deutschen haben auch diese Freiheit durch allerschwerste, brutalste Erfahrungen errungen.
Keine Konzession machen, egal, bei welcher Religion
Wir dürfen keine einzige kleine Konzession machen, egal, bei welcher Religion. Das Gute: Auf diese Weise lassen sich diese Prinzipien strikt formulieren, ohne Angst haben zu müssen, wider Willen in dieses oder jenes populistische Lager zu geraten, welche in diesen Punkten scheinbar dieselben Forderungen erheben.
Liberal-demokratische Kultur stärken
Wir müssen unsere liberal-demokratische Kultur stärken. Die liberale Demokratie mit ihrer Kultur in der Offensive halten. Attraktiv für alle. Also ja: Wir müssen eine deutsche Leitkultur formulieren, aus vielen Gründen; wir, die genuinen Demokraten, ansonsten formulieren sie ganz andere. Und zwar ganz anders.